Nordbalkonbewohner: Bierfried, der Bierschnegel

Einen Schönheitspreis wird Bierfried in diesem Schneckenleben sicher nicht gewinnen: Schmutziggelb und glitschig kriecht er durch die Welt, und diese ist modrig, feucht und oft schimmlig. Der einen Albtraum ist Bierfrieds absoluter Traum: feuchte Kellergewölbe, Mauerritzen, Komposthaufen, dunkle Schächte, in denen sich Flechten, Algen und Pilze (Bierfrieds Leibspeisen) nahtlos aneinanderreihen, Denn: Bierfried ist ein Bierschnegel, eine seltene Schneckenart, die in Deutschland mittlerweile auf der Roten Liste der bedrohten Arten steht und deren Wiederentdeckung vor einigen Jahren für viel Wirbel gesorgt hat.

Ein schleimiger Überraschungsgast

Doch beginnen wir von vorne: An einem schönen sonnigen – und auf meinem Nordbalkon dennoch schattigen – Tag spielte ich mal wieder Pflanzentetris und rückte einige Kübel herum. Ich hob einen der Plastiktöpfe hoch, wollte einen anderen auf dessen Untersetzer stellen und merkte einen Widerstand. Auf den zweiten Blick sah ich ein recht unansehnliches schleimiges Wesen am Untersetzer kleben und empört die Fühler herausstrecken: eine Nacktschnecke.

Allerdings war sie nicht rot wie die Nacktschnecken, die ich schon als Kind gestreichelt, gehegt und gepflegt hatte, sondern schmutziggelb, bräunlich. Und es war mir ein absolutes Rätsel, wie dieses Wesen zwischen Pflanztopf und Untersetzer gekommen war. Wir waren also beide ziemlich verwirrt: Schnecke und Mensch. Geistesgegenwärtig ließ ich das Schnecklein auf einen bepflanzten Topf mit Erde kriechen. Dann fiel mir schlagartig ein, dass Schnecken ja dafür bekannt sind, jegliches Blattwerk als offenes Büffet zu betrachten. Ich beschloss, dass es Zeit für ein Fahndungsfoto sei, denn dann wüsste ich zumindest zukünftig, wer für jeglichen Fraßschaden in meinem kleinen Waldgarten verantwortlich ist.

Beide Fotos: Bierfried Bierschnegel sucht empört das Weite.

Ein seltener Fund im feuchtfröhlichen Nachtleben

Ein kurzer Abgleich mit ObsIdentify – und ich staunte nicht schlecht: Ich hatte keinen geringeren als einen Bierschnegel vor mir, eine unansehnliche, aber dennoch bedrohte Tierart, die in Deutschland 80 Jahre lang als ausgestorben bzw. verschwunden galt und ausgerechnet 2015 in meinem Hamburg, auf der Reeperbahn (!), wieder entdeckt worden war. Bierschnegel und Reeperbahn? Irgendwie wenig überraschend, wenn Mensch bedenkt, dass Bierschnegel ihren Namen tragen, weil sie von Bier geradezu magisch angezogen werden und deshalb einst vor allem in Braukellern vorkamen. Das i-Tüpfelchen: Sie sind echte Nachteulen, die vor allem zwischen 23 Uhr und 4 Uhr morgens durch die Gegend kriechen. Gibt es also einen dramaturgisch besseren Auftritt, als den auf der feuchtfröhlichen Vergnügungsmeile Reeperbahn?

Eine Schneckentaufe, viele Fragen –und eine Kartoffel

Zurück zu meinem Nordbalkon-Bierschnegel: Nun, da wir uns so gut kennengelernt hatten oder vielmehr ich ihn, taufte ich ihn auf den Namen Bierfried (wohlwissend, dass Schnecken Zwitterwesen sind, aber das ist eine andere Geschichte). Bierfried hatte schon während meiner Überlegungen in beschleunigtem Schneckentempo das Weite oder wohl eher Schutz vor dem Licht der Öffentlichkeit gesucht. Doch statt sich unter dem üppigen Blattwerk einer Pflanze zu verstecken, setzte er in einer Ecke an der Außenwand eines Tontopfs seinen Schönheitsschlaf fort und ließ mich mit vielen Fragen zurück: Wie war er in den 2. Stock gekommen? Kriechend über die Hauswand oder über Eier in der Blumenerde? Wie hatte er sich in diese unmögliche Position unter dem Pflanztopf manövriert und wovon hatte er bis dato gelebt? Seit wann war er überhaupt auf meinem Nordbalkon? Und: Hielt er meinen Nordbalkon für einen modrigen Keller?

Links: Bierfried nimmt seinen Mittagsschlaf in einer anderen Balkonecke wieder auf
Rechts: Ein Kartoffel-Opfer für Bierfried Bierschnegel

Was für eine aufregende Begegnung auf dem Nordbalkon! Abends ließ mich der überraschende Besuch irgendwie nicht los. Ich las noch ein wenig über Bierfried und seine schleimigen Verwandten und stieß dabei auf den Hinweis, dass Bierschnegel nicht nur Algen, Flechten und Pilze zum Fressen gern haben, sondern sich mitunter auch an anderen Schneckeneiern und stärkehaltigem Gemüse wie Kartoffeln und Möhren gütlich tun – und daher früher als Schädlinge galten, wenn sie sich in kühlen Vorratskellern über das Wintergemüse hermachten. Und da mich das schlechte Gewissen plagte, weil ich ihn am Nachmittag so plötzlich aufgeschreckt hatte, beschloss ich, ihm eine kleine Kartoffel als Friedensangebot auf den Balkon zu bringen. Aber von Bierfried war weit und breit nichts zu sehen. Vielleicht war er schon auf nächtlicher Mission – auf Nahrungssuche, auf dem Weg an die Theke der nächsten Kneipe oder schlicht auf der Suche nach einem gemütlicheren Unterschlupf. Ich hoffe jedenfalls sehr, dass ihm mein Nordbalkon gefällt und er bleibt. Als offizieller Nordbalkonbewohner wäre er herzlich willkommen.

Du willst mehr über diesen faszinierenden kleinen Kerl wissen? Hier kommen ein paar spannende QuickFacts zum Bierschnegel:

Quick Facts: Bierschnegel

  • Wissenschaftlicher Name: Arianta arbustorum
  • Deutsch: Bierschnegel
  • Ordnung: Pulmonata (Lungenschnecken)
  • Lebensraum: Feuchte, schattige Plätze wie Keller, Mauernischen, unter Steinen, in Wäldern und Gärten mit ausreichend Verstecken und feuchtem Boden
  • Größe: 8-10 cm Körperlänge
  • Farbe: gelblich bis braun
  • Ernährung: Pilze, Flechten, Algen, Schneckeneier, stärkehaltiges Gemüse und verrottendes Pflanzenmaterial
  • Aktivität: Vor allem nachts
  • Lebensweise: Der Bierschnegel gehört zu den Lungenschnecken und atmet über eine Lunge, nicht über Kiemen.
  • Status: Rote Liste der gefährdeten Tierarten
  • Warum er toll ist: Er ist kein Schädling, sondern ein nützlicher Helfer im Garten, denn er hilft bei der Zersetzung von organischen Materialien und kontrolliert das Wachstum von Algen und Pilzen.

Wie ist das bei dir? Wirst du regelmäßig von Schleimspuren überrascht, oder sind Schnecken in deinem Grün eher seltene Gäste?

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Ich bin Patricia

Porträtfoto von Patricia Bobak

Willkommen auf meinem winzigen, wilden Nordbalkon! 🌱 Auf 2,4 Quadratmetern habe ich mir ein naturnahes Paradies geschaffen – trotz (oder gerade wegen) der Schattenlage. Mit diesem Blog möchte ich zeigen: Auch Nordbalkone können summen, blühen und einen wichtigen Lebensraum bieten. Lass dich inspirieren und entdecke, wie schön das Gärtnern im Schatten sein kann!

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